Teil 1: Vairagya, Viveka, Nirodhyama
Wahrscheinlich hast du folgenden Satz schon öfters gehört: „Sei im Hier und Jetzt!“ Es ist ein beliebtes spirituelles Schlagwort, das seinen Ursprung in den jahrhundertealten Lehren der alten östlichen Seher hat, die vor langer Zeit, die Mittel und Techniken um Sambodhi zu erreichen an ihre Anhänger weitergeben wollten. Sambodhi ist Erleuchtung, der mystischste und auch begehrteste Bewusstseinszustand auf dem spirituellen Weg. Das Finden der wahren Gegenwart, des wahren Jetzt, ist für dieses Ziel von grundlegender Bedeutung. Aber was ist eigentlich das wahre Jetzt? Könnte es so einfach sein, sich nur dessen bewusst zu sein, dass du gerade hier bist?
Heutzutage geben zahlreiche Lehrer die zeitlose Lehre „sei im hier und jetzt“ weiter. Das mag zwar wahre Präsenz einschließen, wird aber selten wirklich so verstanden. Es ist häufig eine neue Erfahrung für beginnende spirituelle Enthusiasten, zu bemerken, was in der Gegenwart tatsächlich passiert, anstatt sich mit ihren Unvollständigkeiten in der Vergangenheit oder Hoffnungen auf die Zukunft zu beschäftigen. Sich aber lediglich des Augenblicks gewahr zu sein, bietet dem Schüler jedoch höchstens einen möglichen Ausgangspunkt, eine günstige Gelegenheit, um ein tieferes Nachinnenhören zu entwickeln, das im Idealfall zur Entdeckung einer wahren Gegenwärtigkeit im Jetzt führt. Aber ohne das Wissen, wie dieses Ideal erreicht werden kann, ist das Bemerken des „Jetzt“ für die meisten Menschen nichts anderes, als ein sich kurzzeitiges Ausrichten auf eine voreingestellte Wahrnehmung des Momentes. Jedoch wird dieser Punkt erst erreicht nachdem ein unsichtbarer mentaler Prozess durchlaufen wurde, der eine Vielzahl von verborgenen Vorgängen beinhaltet. Diese Vorgänge bestehen aus zerebralen Filterungen, verdrängten oder automatisierten emotionalen Neigungen und tief verwurzelten Ego-Vorlieben. Das wahre Jetzt ist bereits vergangen, bis es durch diese Schichten gekommen ist, um als tatsächliche Wahrnehmung erfahren zu werden.
Wenn ein Ereignis geschieht, dauert es den Bruchteil einer Sekunde, bevor eine mentale Übersetzung des Geschehens zustande kommt. Diese Übersetzung findet in einem fünf Zentimeter großen Segment grauer Substanz im hinteren Teil des Gehirns statt. Diese anfängliche sensorische Eingabe wird immer von einer vielfältigen Schicht neuronaler Muster und Filter beeinflusst, die jeden neuen Moment verändern und formen, um dem mentalen Temperament des Betrachters zu entsprechen. Das menschliche Nervensystem kann Nervensignale mit einer Geschwindigkeit von 250 bis 450 Km pro Stunde übertragen, abhängig davon, ob es sich um ein ultraschnelles neuronales Signal oder eine langsamere Nervenübertragung handelt. Gedanken unterscheiden sich von tatsächlichen Wahrnehmungen. Gedanken sind unsere mentalen Reaktionen auf unsere Wahrnehmungen. Sie sind nicht deine tatsächlichen Wahrnehmungen. Du kannst denken: „Ich bin hier“, aber erst, nachdem du die Situation beurteilt hast. Eine Möglichkeit, dies zu verstehen, besteht darin, sich vorzustellen, dass du deine Präsenz tatsächlich durch einen Blick in deine Vergangenheit erkennst. Zu dem Zeitpunkt, in dem du deinen Moment siehst, wurde sein Aussehen durch den Filtrationsprozess, den er gerade durchlaufen hat, verändert. Dieser Filtrationsprozess unterscheidet sich stark von der Person, die möglicherweise neben dir sitzt. Jeder hat seine eigenen Filter, niemand sieht deine Wahrnehmung der Realität so wie du.
Warum ist das wichtig? Weil du die Realität nicht so siehst, wie sie wirklich ist oder tatsächlich geschieht, wenn du nur deine Aufmerksamkeit auf das Jetzt richtest! Wenn du einen erleuchteten Meister fragen würdest, was Erleuchtung ist, würde seine erste Antwort höchstwahrscheinlich lauten: „Erleuchtung ist deine Fähigkeit, die Realität so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist – jetzt.“ Aber das Jetzt, auf das sich der Meister bezieht, ist nicht das Jetzt das Unerleuchtete wahrnehmen. Der Erleuchtete nimmt das „jetzt“ auf reine Art wahr. Es ist völlig ungefiltert und bleibt so, wie es sich in dem Moment entfaltet, in dem es auf dem stillen Boden des Potenzials geboren wird, aus dem das gesamte Universum hervorgeht. Auch wenn diese Möglichkeit für manche ein bisschen zu hoch klingen mag, um zu glauben, dass sie das erfahren können, ist es tatsächlich deine wahrste Natur und deine höchstmögliche Bestimmung, diese Einheit mit dem Jetzt zu leben.
Um Erleuchtung zu ermöglichen, müssen drei sich entwickelnde Handlungen etabliert werden: Vairagya, Viveka und Nirodhyama. Der Sanskrit-Begriff Vairagya kann als Unangehaftet sein, Ausgeglichenheit oder Selbstbeherrschung übersetzt werden. Er beschreibt eine wachsende Achtsamkeitsfähigkeit, das Bewusstsein von aktiven mentalen Tendenzen zu distanzieren. Vairagya ist eine kultivierte unangehaftete und unschuldige Wachsamkeit. Es beginnt als mentale Disziplin, die schließlich in einen mühelosen Zustand des Bezeugens übergeht, der sich weiter zu Vaira’sakśi entwickelt. Vaira’sakśi ist ein fortgeschrittener Beobachtungszustand, in dem das Kerngewahrsein des Wahrnehmenden seine Verwicklung gelöst hat von mentalen Emotionen, Anhaftungen oder Aversionen beherrscht zu werden. Dies ist kein Zustand, der gefühlslos oder teilnahmslos ist, wie er manchmal in verschiedenen yogischen Texten beschrieben wird. Es ist ein wachsamer und dynamischer Zustand des Bezeugens, in dem dein Potenzial für intuitive Sensitivität, unvoreingenommenes Fühlen und die daraus resultierende Fähigkeit zur Unterscheidung erheblich gesteigert ist.
Viveka ist der Akt in der Kunst des Vairagya. Es ist ein reiner Akt der Unterscheidung. Es ist nicht nur eine Art von Unterscheidung, die das Treffen gewöhnlicher Entscheidungen beinhaltet, die die eigenen Wünsche befriedigen. Viveka ist ein tiefergehender intuitiver Akt, der allmählich dazu führt, dass das, was wirklich ist, dem vorgezogen wird, was nicht real ist. Viveka ist nicht nur die Fähigkeit, zwischen bevorzugten Lebensoptionen zu wählen, sondern zwischen dem, was eine Illusion ist und dem, was das wahre Gesicht der Wahrheit ist. Nirodhyama ist der Gesamtprozess der achtsamen Transzendenz, der sich auf die Kernhandlungen von Vairagya und Viveka stützt. Die ideale Methode, um diese drei zu lernen, ist richtig praktizierte Meditation. Der eigentliche Ablauf dieser wird in der nächsten Lektion beschrieben.
Text: Aaravindha Himadra, Übersetzung: Aiyanna Diyamayi

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